Verborgene Probleme werden durch Krisen wie die Pandemie und den Ukrainekrieg nun sichtbar, orten die Consulter von Deloitte.
Mit der Studie „Deloitte Radar 2022“ wurde die Stimmung von Österreichs Unternehmen genau unter die Lupe genommen. Die Ergebnisse zeigten eindeutig, dass das Land in den meisten abgefragten Bereichen nur im Mittelfeld zu finden ist. Im aussagekräftigen „World Competitiveness Index“ lag die Alpenrepublik in Europa auf Platz 11, beim „Global Innovation Index“ und dem „World Happiness Report“ der Vereinten Nationen rangiert Österreich auf Platz 10 – de facto im letzten Drittel. Was die Politik beherzigen sollte, um die Situation zu verbessern, erklärt Deloitte-CEO Harald Breit.
Wie viele Befragte nahmen an der aktuellen Deloitte-Studie ‚Radar 2022‘ zum Wirtschaftsstandort Österreich teil?
Harald Breit: In unserer Umfrage, die im März dieses Jahres durchgeführt wurde, haben wir rund 230 Unternehmen interviewt, von ganz großen Konzernen bis zu mittelgroßen und kleineren Firmen. Tendenziell waren es aber größere und mittelgroße Betriebe. Vertreten waren viele Branchen, von Kredit- und Finanzinstituten, Produktions- und Dienstleistungsunternehmen. Die Größe unseres Hauses ermöglich uns, hier repräsentative Ergebnisse zu liefern.
Wie sehr haben die Pandemie und der Krieg in der Ukraine dem Standort Österreich geschadet oder sogar geholfen?
Breit: Geholfen vielleicht indirekt, indem Probleme, die aus der Vergangenheit resultieren und ein wenig im Verborgenen waren, transparenter aufgezeigt wurden. Da ist plötzlich vieles ins Bewusstsein gerückt, beispielsweise die Energieabhängigkeit. Ich glaube nicht, dass es vielen Menschen, Unternehmen und Führungskräften in Österreich bewusst war, dass etwa 80 Prozent der Gaslieferungen aus Russland kommen. Man hätte sich bis vor Kurzem auch nicht vorstellen können, welche kriegerischen Aktivitäten durch Russland in Europa ausgelöst werden. Es ist uns schmerzlich bewusst geworden, wie abhängig Österreich insbesondere von Energie- und Gaslieferungen ist. Das ging für viele Jahre gut und brachte durch günstige Preise durchaus wirtschaftliche Vorteile. Es ist mittlerweile leider auch deutlich geworden, dass die Möglichkeiten für kurzfristige Alternativen sehr beschränkt sind. Wenn man sich die Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute ansieht, welche Auswirkungen ein Gaslieferstopp seitens Russlands haben könnte, so kann das zu wirtschaftlichen Einbrüchen von bis zu vier, fünf Prozent des Bruttosozialprodukts führen. Das kostet Arbeitsplätze und Wohlstand. Umgekehrt wird die Energiewende hin zu erneuerbarer Energie hoffentlich entsprechend beschleunigt. Das ist im Moment nach wie vor allerdings mehr Wunschdenken als Realität und geht sehr zäh vonstatten.
Die Abhängigkeit von russischem Gas war bereits länger Allgemeinwissen. Mangelt es daran in den Führungsetagen?
Breit: Es war vielen in dieser Dramatik nicht bewusst. Ich glaube, dass die Transparenz nicht vorhanden war, und dabei ist Österreich nicht alleine. Auch in Deutschland und generell in Europa war die ‚Awareness‘ diesbezüglich in dieser Form nicht da.
Wie kann man die aktuelle Stimmung in der Wirtschaft für das Restjahr 2022 und für 2023 bezeichnen?
Breit: Es ist evident, dass die Stimmung im Vergleich zum Herbst 2021 schlechter ist. Es gab einen neuerlichen Lockdown im Winter und danach den Krieg in der Ukraine. Die dritte geopolitische Komponente ist die Beeinflussung globaler Lieferketten durch die Coronapandemie, Stichwort Lockdowns in China. Ganz entscheidend wird es aber sein, wie es in der Ukraine und mit den Energielieferungen im Herbst und Winter weitergeht. Natürlich schwächt sich die wirtschaftliche Entwicklung ab, die Inflation ist sehr hoch, und es werden Zinsmaßnahmen gesetzt. Höhere Zinsen bedeuten höhere Kapitalkosten für die Unternehmen und beeinflussen damit das Wachstum. Das Gespenst, das mittel- oder längerfristig umgeht, ist die Gefahr einer Rezession oder Stagflation. Wir werden heuer und wahrscheinlich auch 2023 mit weniger Wachstum leben müssen, die Aussichten haben sich verdüstert. Letztlich sind wir zudem in Österreich mit einem Arbeitskräftemangel quer durch alle Bereiche konfrontiert. Hier besteht die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale, die viele Unternehmen fürchten. Das wird im kommenden Jahr eine große Herausforderung sein.
Abseits der Ergebnisse der Deloitte-Studie – wie sind Ihre persönlichen Erwartungen? Totalkatastrophe oder Sonnenschein?
Breit: Sie sind deckungsgleich mit den Ergebnissen unserer Umfrage. Wir liegen im Mittelfeld. Die euphorische Stimmung Ende des Jahres 2021 ist einer nüchternen Realität gewichen. Die Umfrage vom März 2022 ergab eine positive Stimmung bei nur noch 50 Prozent der Unternehmen, bei 50 Prozent eine eher negative. Das hat sich in den vergangenen Monaten sicherlich weiter hin zu einer negativeren Erwartungshaltung verschoben. Die Skepsis ist weiter angestiegen, denn die Auswirkungen vieler Ereignisse wird man erst 2023 noch deutlicher zu spüren bekommen. Das betrifft vor allem die gestiegenen Kosten im Produktionsbereich. Es kommt auch zu Zulieferproblemen. Es gibt in einigen Bereichen weiterhin die Notwendigkeit für Kurzarbeit, da Lieferketten unterbrochen sind. Die Preise sind in nahezu allen Bereichen gestiegen. Wenn im kommenden Jahr stark steigende Personalkosten hinzukommen, wird das für viele Unternehmen eine Herausforderung werden, die zulasten der Rentabilität geht. Das hängt aber von der Branche ab, denn zum Beispiel der Tourismus wird durchaus positiv abschneiden, sofern Arbeitskräfte verfügbar sind.
Als große Sorge nennen Unternehmen die Sicherheit bei der Energieversorgung. Ist das übertrieben?
Breit: Wenn es als Folge des Ukrainekrieges zu einer Unterbrechung der Öl- und vor allem der Gasversorgung kommt, bedeutet dies massive Einschränkungen für die Industrie. Auch die Unsicherheit bei der Frage der Priorisierung bei Gaslieferungen drückt bei Unternehmen auf die Stimmung. Die langfristigen Folgewirkungen sind natürlich sehr schwer abschätzbar.
Bei vielen abgefragten Parametern wie beim Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem und Steuern rangiert Österreich im Mittelfeld. Ist das negativ oder positiv zu beurteilen?
Breit: Das ist die Frage, ob man das Glas als halbvoll oder halbleer empfindet. Wir haben die klare Auffassung, dass es viel, viel besser gehen könnte. Man müsste sich ein klares Ziel setzen, um ins Spitzenfeld zu kommen. Vergleichbare Länder in Skandinavien schneiden in den globalen Indizes und Rankings viel besser ab. Im World Competitiveness Ranking ist Österreich zurückgefallen. Ebenfalls wichtig ist der Global Innovation Index, in dem Innovationen und Forschung gemessen werden. Länder, die beim Competitiveness Ranking vorne liegen, sind auch bei den Innovationen vorne. Das hat einerseits mit der generellen positiven Einstellung zu Forschung, Entwicklung und Unternehmertum zu tun und andererseits mit dem Bildungssystem. Bei den Pisa-Rankings liegt Österreich auch bestenfalls im Mittelfeld. Wir haben gerade während der Pandemie gesehen, dass die Digitalisierung im Schulbereich vielfach völlig unzureichend war. Da geht es um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von morgen, die in Zukunft die österreichische Wirtschaft vorantreiben sollen. Deshalb ist es essenziell, die Digitalisierung im Bildungsbereich voranzutreiben. Das geschieht zu langsam. Die Ausstattung mit Laptops und Tablets ist noch immer sehr zäh, bei der digitalen Kompetenz gerade beim Lehrpersonal ist noch viel Luft nach oben.
Nimmt man das Deloitte-Stimmungsbarometer, dann ist in Österreich unter dem Strich nur die Lebensqualität hervorragend.
Breit: Die hat zwar auch gelitten, aber Wien ist beispielsweise seit zig Jahren die lebenswerteste Stadt der Welt. Aber es gab dunkle Schatten wie die Spaltung der Gesellschaft während der Covidpandemie. In Österreich kam es nach Jahrzehnten erstmals wieder zu einer Polarisierung der Gesellschaft, etwa zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern. Wenn vor Krankenhäusern Ärzte und Pfleger beschimpft und bedroht werden, werden Grenzen überschritten. Das macht vielen Menschen Sorgen um den sozialen Zusammenhalt im Land. Auch um das Gesundheitssystem generell haben sich viele Sorgen gemacht, da es am Rande der Kapazitätsgrenze stand.
Nach dem Deloitte ‚Radar 2022‘ raten Sie Österreich zu zehn Maßnahmen. Gibt es darunter eine, die Sie an die Spitze der Forderungen stellen würden?
Breit: Ein Ranking ist immer etwas Subjektives. Wenn es eine deutliche Nummer eins gibt, ist es das Thema der Energiewende und der Umbau des Energiesystems. Das ist einerseits anlassbezogen, Stichwort Krieg in der Ukraine, aber auch mittel- und langfristig zu sehen. Die Aspekte der Nachhaltigkeit sind ein bisschen in den Hintergrund geraten, wobei beide Themen eng miteinander verflochten und sogar kompatibel sind. Wenn man von fossilen Brennstoffen weg möchte, bleibt keine andere Möglichkeit, als die Energiewende zu beschleunigen und zu schaffen. Das hat oberste Priorität.
Ist man in Sachen Energiewende auf dem richtigen Weg?
Breit: Bei vielem ist zwar guter Wille vorhanden, aber die Umsetzung dauert viel zu lange. Ein gutes Beispiel sind die langen Genehmigungsverfahren bei Windrädern – für einen Windpark dauert das bis zu sieben Jahre. So werden wir die Energiewende nicht schaffen. Hier behindern der Föderalismus und die überbordende Verwaltung dringend notwendige Veränderungen.
Der Ausbau der Forschungsförderung und die Anregung von Investitionen sind ein weiterer Rat von Deloitte an die Politik.
Breit: Forschungsförderung umspannt ein breites Spektrum, und es hat sich einiges verbessert. Der Forschungsfreibetrag wurde deutlich erhöht, aber da geht sicherlich noch mehr. Bei Standorten mit erhöhten Lohnkosten können wir nur in Bereichen tätig sein, in welchen wir hochqualitative und innovative Produkte herstellen. Dazu braucht es Innovation. Auch bei der ökosozialen Steuerreform gibt es einen erhöhten Investitionsfreibetrag für Investitionen in erneuerbare Energien.
Die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts ist ein Dauerthema. Wo besteht Handlungsbedarf?
Breit: Wir müssen noch gezielter qualifizierte Fachkräfte nach Österreich holen, Stichwort Rot-Weiß-Rot-Card. Ebenso müssen vorhandene Ressourcen viel besser genutzt werden. Man hat bei den Menschen aus der Ukraine wieder gesehen, welche bürokratischen Hürden es gibt. Da sind wir wieder beim Thema Digitalisierung. Wozu braucht man im 21. Jahrhundert noch eine blaue Karte, auf die die Flüchtlinge wochenlang warten mussten? Das müsste digital beispielsweise über eine App möglich sein.
Woran scheitert es?
Breit: Wir haben in Österreich ein sehr komplexes System des Föderalismus, der in manchen Bereichen hinderlich ist. Der Kompetenzdschungel und die komplexen Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern machen vieles nicht einfacher. Das konnte man beim Covid-Management sehen. Österreich ist eigentlich ein kleines Land, hat aber neun verschiedene Bundesländer mit neun verschiedenen Regelungen. Macht es Sinn, das Rad neun Mal auf unterschiedliche Art zu erfinden?
Ist das österreichische Bildungssystem als solches noch zu retten oder braucht es eine ‚Neuerfindung‘?
Breit: Alles völlig neu zu gestalten, ist unrealistisch, aber man sollte die wesentlichen Themen einmal angreifen. Das ist die Ganztagsschule, die Ganztagskinderbetreuung, was vor allem die sprachliche Entwicklung und Förderung positiv beeinflusst. Für jene, die sich keine Nachhilfestunden leisten können, muss ein umfassendes Bildungsangebot vorhanden sein. Das bedeutet, dass die Infrastruktur geschaffen werden muss, um das umzusetzen.
Hier bedarf es vor allem des politischen Willens. Man kann ein System reformieren, wenn man das wirklich will. Es bedarf der Infrastruktur wie der Neubau und die Modernisierung von Schulgebäuden, die digitale Ausstattung und vermutlich ein anderes Arbeitsmodell für Pädagogen. Etwa eine längere Anwesenheitspflicht in der Schule, um auch die Nachmittagsbetreuung zu gestalten. Das wäre meine ideale Vorstellung von Schule, die auch die Eltern entlastet. Womit wir wieder beim Thema der Arbeitskräfte wären, denn viele Frauen sind aufgrund fehlender Betreuungsmöglichkeiten nur teilzeitbeschäftigt. Eine Reform des Bildungssystems in diese Richtung würde auch einen Schub an neuen Arbeitskräften auslösen.
Ein Deloitte-Kriterium ist die Stabilität eines Landes. Ist Österreich stabil?
Breit: Ja, sicher.
Sie nennen ‚die Förderung einer positiven und zuversichtlichen Grundstimmung in der Wirtschaft als Voraussetzung für Innovationskraft, Risikofreude und nachhaltige Verantwortung‘. Funktioniert das bei dem grantelnden Gemüt der (Ost-) Österreicher überhaupt?
Breit: Ich glaube schon, dass die Leistungsbereitschaft und die Motivation sehr wohl da sind, sonst würde der Wirtschaftsstandort Österreich nicht insgesamt dennoch gut dastehen. Dass in Ostösterreich das Raunzen vielleicht überproportional vorhanden ist, mag schon sein. Das gehört vielleicht zur Mentalität. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Menschen die Ärmel aufkrempeln, wenn es darauf ankommt. Sonst hätten wir diesen Wohlstand nicht.
Ist das bedingungslose Grundeinkommen eine Maßnahme, die – wie von Ihnen gefordert – die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und die Überwindung der aktuellen Spaltungstendenzen in der Gesellschaft beenden könnte?
Breit: Ich bin hier sehr skeptisch. Es würde eher zu einer Polarisierung als zu einem verstärkten Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft führen. Ich glaube, dass das ein Minderheitenprogramm ist. Das konnte man bei dem mäßig erfolgreichen Volksbegehren sehen. Zu akzeptieren, dass jemand ohne besonderen Grund, zum Beispiel Krankheit oder Unfall, auf Kosten der anderen leben möchte, entspricht mehrheitlich nicht der österreichischen Mentalität. Das lehnt der Großteil der Bevölkerung ab.