Unternehmen wie Atradius kennen ihre Kunden und deren Lieferanten genau und können die aktuelle Wirtschaftslage bestens einschätzen.
Kreditversicherungsunternehmen bleiben meist im Hintergrund, doch kaum jemand weiß so genau über den Zustand der heimischen Wirtschaft und der Betriebe Bescheid. Franz Maier ist Generaldirektor bei dem Kreditversicherer Atradius für Österreich, Ungarn und Südosteuropa, kennt den Herzschlag der österreichischen Unternehmenslandschaft und stellt ihr ein relativ gutes Zeugnis aus. Dennoch: Österreichs Wirtschaft hat, was das europäische Ranking betrifft, an Boden verloren.
Erklären Sie bitte kurz das Geschäftsfeld von Atradius.
Franz Maier: Atradius wurde vor rund 100 Jahren gegründet und ist heute der zweitgrößte Kreditversicherer weltweit. Unser Geschäft ist einfach erklärt – wenn eine Firma A eine Lieferung oder eine Servicedienstleistung an eine versicherte Firma B erbringt, erstellt sie eine Rechnung mit einem Zahlungsziel. Das ist eigentlich ein Kredit, der sogenannte Lieferantenkredit. Sollte die Firma B die Rechnung nicht bezahlen können, entschädigt Atradius die Firma A.
Wie teuer ist eine Kreditversicherung?
Maier: Das hängt ab von der jeweiligen Branche, vom Marktumfeld, von der Bonität der Abnehmer, den Zahlungszielen und wo die Geschäfte getätigt werden. Es gibt zum Teil sehr hohe Länderrisiken und Branchenrisiken. Manche Länder und manche Branchen sind weniger risikobehaftet, hier werden die Prämien auch geringer sein. Es muss allerdings das gesamte Portfolio versichert werden und dann sprechen wir von einem Prämiensatz von weit unter einem Prozent der monatlichen Außenstände. Das variiert aber.
Wie hoch ist das Risiko eines Zahlungsausfalls in Österreich?
Maier: Es ist leider so hoch wie nie zuvor. Wir werden heuer in Österreich rund 7.000 Insolvenzen verzeichnen, das entspricht einem Niveau von vor 15 Jahren. Die gesamte makro- und mikroökonomische Sicht ist dabei ausschlaggebend. Es gab eine hohe Inflation, die in ganz Europa gewütet hat, wobei Österreich zu einem der am stärksten betroffenen Ländern gezählt hat. Nun geht die Inflation zurück, jedoch sind die Finanzierungskosten noch immer sehr hoch. Wenn sich Unternehmen heute refinanzieren müssen, ist dies mit den derzeitigen Konditionen schwierig. Andererseits können Unternehmen hohe Lohnkosten und Energiepreise nicht mehr weitergeben und es fehlt in Österreich die Konsumnachfrage, da die Menschen weniger Geld in der Tasche haben. Auch fehlt es an Fachpersonal, auch sind die hohen Lohnnebenkosten für unsere Wettbewerbsfähigkeit am Weltmarkt nicht gerade förderlich. Das drückt massiv auf die Wirtschaft.
Auf welchem Niveau befinden wir uns im Europavergleich?
Maier: Inflationstechnisch ist Österreich weit abgerutscht, die Energiekosten waren horrend, Lohnnebenkosten, Kollektiverhöhungen, fehlendes Fachpersonal und Bürokratie für unsere Unternehmen machen derzeit Österreich als Wirtschaftsstandort nicht kompetitiv.
Als Manager bei Atradius kennen Sie die Situation der Wirtschaft ganz genau. Wie würden sie diese beschreiben?
Maier: Ich möchte positiv sein. Österreich war eigentlich immer Exportkaiser und verdiente jeden zweiten Euro direkt oder indirekt durch Exporte. Das Manko ist allerdings, dass wir sehr auf Deutschland fokussiert bzw. abhängig sind. Wenn die deutsche Maschine brummt, dann brummt es auch in Österreich. Derzeit stagniert Deutschland, und es gibt ebenso in Österreich heuer wieder einmal kein Wachstum – wir sind in einer Rezession. Unser Wirtschaftsstandort kommt unter Druck. In energieintensiven Branchen hat Österreich den Zug in den letzten beiden Jahren verpasst, um mit einer gewissen Preisstabilität am Energiemarkt aufzutreten. Schön langsam kommt jetzt Entspannung hinein. Für die Zukunft sehe ich Licht am Ende des Tunnels, es werden weitere Zinssenkungen erwartet, und die Energiepreise bewegen sich talwärts. Das ist auch gut für die Konsumenten, denn dadurch haben sie mehr Geld in der Tasche und können es ausgeben, auch werden bei sinkenden Zinsen Investitionen und Kaufverhalten positiv stimuliert. Österreich hat sicher noch einige Hausaufgaben zu erledigen. Es werden uns noch einige holprige Monate bevorstehen. Im zweiten Halbjahr 2025, sollte es keine weiteren massiven geopolitischen Unruhen geben, wird die Industrie wieder langsam in Schwung kommen und die Nachfrage an Immobilien und Pkws wieder steigen. Dann könnten wir nach langer Zeit wieder ein passables Wachstum im Jahr 2026 verzeichnen.
Was hätte die vorige Bundesregierung besser machen können?
Maier: Ich weiß nicht, ob eine andere Regierung besser reagiert hätte. Aber es hätte bei einigen Themen etwas schneller agiert werden können. Wenn wir den Jahresanfang 2023 betrachten, als sich die Energiepreise auf einem enormen Level befanden, waren sie teilweise in Europa wieder am Sinken. Das passierte bei uns nicht. Hier hat die Regierung nötige Maßnahmen nicht eingeleitet. Von Corona herauskommend, haben faktisch alle Betriebe überlebt, auch wenn viele argumentieren, Geld sei mit der Gießkanne verteilt worden. Erst jetzt stellt sich heraus, welche Zombie-Firmen dadurch mitgenommen wurden. Summa summarum hat die österreichische Regierung den Job sehr gut gemacht, es hättejedoch in dem einen oder anderen Bereich schneller agiert werden können. Im Nachhinein sind wir aber alle wesentlich klüger als zuvor.
Spürt Atradius durch die volatilen Zeiten eine gestiegene Nachfrage nach Kreditversicherungen?
Maier: Auf alle Fälle! Die Branche der Kreditversicherer ist eher im Hintergrund tätig. Alle großen Unternehmen wissen, was Kreditversicherungen sind und beinahe alle verwenden sie. Die größeren Mid-Size-Unternehmen im KMU-Bereich verwenden ebenfalls Kreditversicherungen. Bei denjenigen, die unser Produkt ebenso wirklich brauchen würden, die kleineren KMU, fehlt dieses Wissen meist. Wenn bei solchen Firmen ein großer Kunde ausfällt, kann das nicht mehr kompensiert werden. Kreditversicherungen sichern nicht nur die Liquidität und die Risiken der Kunden ab, sondern wir geben auch Liquidität. Mit einem abgesicherten Portfolio kann eine Bank um Factoring gebeten und Rechnungen können vorfinanziert werden. Ohne eine Kreditversicherung lehnen Banken dies zumeist ab, außer sie haben selbst eine Kreditversicherung.
Wie sehr ist die Nachfrage gestiegen und wie viele Anfragen müssen Sie ablehnen, da Risiken nicht mehr einschätzbar sind?
Maier: Im Vergleich zu den letzten beiden Jahren sind die Anfragen um rund zehn bis 15 Prozent gestiegen. Wir lehnen generell keine Anfragen ab, sondern prüfen alle Kunden eines Antragstellers und aufgrund der Ergebnisse erstellen wir für die geprüften Unternehmen Kreditversicherungslimits. Falls wir ein Kreditversicherungslimit ablehnen, begründen wir auch, weshalb wir einen Kunden eines Antragstellers nicht versichern – zumeist ist die fehlende Bonität der Grund. Dann sollte unser Kunde sich überlegen, ob er in Zukunft auf offene Rechnung wirklich liefern will. Es gibt somit Risiken bzw. Unternehmen, die nicht versicherbar sind. Niemand würde den ersten Stock eines Hauses gegen Feuer versichern, während es im Erdgeschoss bereits brennt.
Hat sich durch die Digitalisierung und KI die Bonitätsprüfung für Atradius vereinfacht?
Maier: Wir arbeiten seit Jahrzehnten mit sogenannten Score-Cards, in denen eine Vielzahl von Informationen abgefragt wird – seit wann ein Unternehmen tätig ist, wie viele Mitarbeiter, in welcher Branche ist das Unternehmen, wie sind die Bilanzkennzahlen und vieles mehr. Wir integrieren KI und maschinelles Lernen in unsere Ökosysteme, um mehr Geschwindigkeit, Qualität und Effizienz im Portfoliomanagement und bei Kreditentscheidungen zu erreichen.
Zu diesen Aktivitäten gehören das automatische Abrufen und Analysieren von Informationen aus zahlreichen Quellen, Entity Matching, maschinelles Lesen von Finanzberichten und wir verwenden neuronale Netzwerke und Fuzzy-Logik, um Kreditentscheidungen zu optimieren. Die Ergebnisse sind beeindruckend, wie sich herausstellt. Wir haben erhebliche Effizienzverbesserungen, Produktivitätssteigerungen, einen verbesserten Kundenservice und Einsparungen bei Forderungen erzielt. Dies ist besonders wichtig angesichts der enormen Größe unserer Risikopositionen und der Millionen von Kreditlimits, die wir verarbeiten.
Sie bemängeln oft auch die Zahlungsmoral in Österreich …
Maier: Das stimmt. Doch weshalb ist das so, dass österreichische Unternehmen schleppend zahlen? Das Zahlungsziel ist der eigentliche Lieferantenkredit, denn der ist die günstigste und größte Kreditform der Welt. Die meisten Unternehmen in Österreich zahlen erst rund ein Monat nach der Fälligkeit einer Rechnung. Das macht die eigene Liquiditätsplanung des betroffenen Betriebes schwierig. Factoring kann hier natürlich helfen. Unternehmen versuchen generell, die Zahlungsziele so weit wie möglich zu dehnen, denn man zahlt keine Zinsen, und der Lieferant fungiert als Bank. In einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld nimmt die Zahlungsmoral ab.
Machen die multiplen Krisen – von der Energiewende, dem Krieg in der Ukraine, weniger zuverlässigen Lieferketten bis hin zum Fachkräftemangel und dem schwelenden Wirtschaftskrieg zwischen dem Westen und China – Ihr Geschäft nicht schwieriger?
Maier: Die große Kunst ist, und das sollten sich auch die Unternehmen an die Schultern heften, Vorkommnisse zu antizipieren. Unser Geschäft ist es nicht nur, das Risiko am heutigen Tag zu analysieren. Das ist einfach und das kann jeder. Unser Geschäft ist es, zu antizipieren, wie es diesem Unternehmen in den nächsten zwölf Monaten geht und ob es diese Zeit überleben kann und dann eben in der Lage ist, seine Verbindlichkeiten zu begleichen. Am Ende des Tages versichern wir diese Transaktionen. Wenn geopolitische Vorkommnisse passieren, wie etwa die Blockade des Suezkanals, müssen wir in der Sekunde wissen, welche Unternehmen davon betroffen sind. Wir müssen wissen, welche Waren auf diesem Weg auf den Schiffen unterwegs sind, welche Abnehmer generell diese Waren erhalten sollen und wenn diese nicht am Zielort ankommen können, welche Produktionslinien dadurch stillstehen und welchen Impact dies haben kann. Auch bei der atomaren Katastrophe von Fukushima war es klar, dass im Umkreis von rund 100 Kilometern die Produktion, das Leben und der Handel zum Erliegen kommen werden und daher eine Vielzahl von Unternehmen negativ betroffen ist. Wir müssen in solchen Fällen rasch und nicht erst nach einigen Wochen reagieren. Eine Kreditversicherung schützt in guten und natürlich auch in schlechten Zeiten.