In der Wiener Donaucity beschäftigt man sich mit modernster Technologie im Bereich des Visual Computing – und geht auf dem Mars spazieren.
Mit dem VRVis verfügt Wien über eine international anerkannte Forschungseinrichtung im Bereich des Visual Computing. Mehr als 75 Forscher tüfteln im Ares Tower in der Donaucity an den Technologien von morgen, die weit über die herkömmliche Virtual und Augmented Reality hinausgehen. So entstehen in enger Kooperation mit Partnern aus Wissenschaft und Industrie maßgeschneiderte Technologie-Lösungen.
Das VRVis ist ein COMET-Kompetenzzentrum (Competence Centers for Excellent Technologies) für Visual Computing. Was darf man sich darunter vorstellen?
Gerd Hesina: Visual Computing ist ein Bereich der Informatik, bei dem viele wissenschaftliche Disziplinen zusammengeführt werden, die mit visuellen Komponenten zu tun haben. Das reicht von Computergrafik, Computer vVision, Visual Data Analytics, Künstliche Intelligenz, Extended Reality, Bildverarbeitung und Simulation bis hin zu digitalen Zwillingen. Bei Visual Computing werden die Augen des Menschen dazu verwendet, Informationen zu transportieren. Wenn man die Augen als Breitbandanschluss versteht, mit dem wir Informationen aufnehmen, ist das der rascheste Weg ins Gehirn.
Einer der Bereiche ist die Bildverarbeitung, wobei es um Entscheidungsfindungen, basierend auf Bildern, geht.
Hesina: Wir verwenden Bildverarbeitung und Bildverarbeitungsalgorithmen, angereichert mit Künstlicher Intelligenz, wobei sich hier Möglichkeiten auftun, von denen man vor einigen Jahren nur geträumt hat. Wir beschäftigen uns seit über zehn Jahren mit diesem Thema und konnten viele Projekte umsetzen. Ganz stark sind wir in diesem Bereich in der Entwicklung KI-gestützter vertrauenswürdiger Diagnostiklösungen für die digitale Radiologie. Wir setzen hier auf die Kombination von Visualisierung und Künstlicher Intelligenz zur besseren Verständlichmachung und für eine größere Zuverlässigkeit der KI-Ergebnisse. Diese Verknüpfung von Visualisierung und KI ist ein echtes Power Couple, durch das wir etwa Satellitenbilder für die nachhaltige digitale Landwirtschaft besser nutzbar machen, Hochwassersimulationen auf ein ganz neues Level heben oder in der Arbeit mit Punktwolken in den Bereichen Infrastruktur und Bauwesen viele Innovationen vorantreiben.
Weshalb haben Sie das VRVis in Wien angesiedelt? Die Stadt ist nicht gerade als Hightech-Hub bekannt …
Hesina: Das würde ich so nicht sagen. Google oder die Amazon- Entwicklung haben wir zwar nicht in Wien, das stimmt. Was wir aber sehr wohl in Wien haben, sind spezielle Gebiete, in denen es traditionell viel Forschung gibt, und eines davon ist die Computergrafik, die mit den Jahren stark gewachsen ist. Begonnen hat diese Entwicklung in den 1980er- und 1990er-Jahren. Aus diesem Umfeld ist auch das VRVis im Jahr 2000 entstanden. Mit der TU Wien, der TU Graz und der Universität Wien bilden wir eines der größten Forschungscluster in Europa auf dem Gebiet des Visual Computing.
Das VRVis versteht sich als Brücke zwischen Forschung und Wirtschaft. Wo steckt VRVis drinnen?
Hesina: Wir sorgen für viel Wissenstransfer. Wenn in der Wissenschaft neuartige Methoden entwickelt wurden, bedeutet das nicht, dass sie bereits in einer Anwendung umgesetzt oder anwendungsreif sind. Das heißt, wir nehmen Methodiken und Algorithmen und gießen sie in anwendungsorientierte Software. Ein Beispiel dafür wäre die Hochwassersimulation, die das VRVis für das Bundesministerium für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus und den Versicherungsverband für ganz Österreich entwickelt hat. Wir haben hier die Hochwasserrisiko-Zonen in Kooperation mit der TU Wien neu berechnet und bereiten sie interaktiv auf, um die Thematik auch für die Bevölkerung besser verständlich zu machen. Darauf basierend, entstehen Notfallpläne für den Ernstfall von Starkregen und Überflutungen, und es werden Szenarien durchgerechnet, woraus sich in Folge Maßnahmen, von Sandsackbarrieren bis zu mobilen Schutzwänden, ableiten lassen. Auch in Deutschland wird unsere Hochwassersimulation sehr gut angenommen, etwa in Hamburg, Köln, Rheinland-Pfalz und in Ostfriesland – das ist Wissenstransfer direkt aus der Wissenschaft in eine Anwendung.
Ein anderer Schwerpunkt liegt auf Augmented und Virtual Reality. Werden wir bald alle mit VR-Brillen herumlaufen?
Hesina: Noch in den 1990er-Jahren herrschte die Meinung vor, dass sich die VR-Technologie durchsetzen wird und man in Zukunft mit VR-Helmen oder VR-Brillen herumlaufen wird. Das ist nicht eingetreten. Durch die verbesserte Hardware ergeben sich ganz neue Möglichkeiten, durch die das Anwendungsgebiet immer breiter wird. Heute werden VR-Brillen beispielsweise für Trainingszwecke eingesetzt, wie etwa für Brandschutztrainings. Dabei wird der Einsatzort durch die VR-Brille realitätsnah dargestellt, ohne dass tatsächlich gezündelt wird oder teure Löschmittel verschwendet werden müssen. Ich kann das ‚Look and Feel‘ des Trainings tatsächlich virtuell genauso erleben und so für einen Einsatz realitätsgetreu üben.
Wir arbeiten außerdem mit Seniorenheimen und Augenspezialisten zusammen, um mögliche Seherkrankungen und ihre Implikationen im Alltag besser verständlich zu machen, oder mit dem Bundesheer im Bereich der Fernerkundung, wobei die Soldaten weit entferntes Gelände virtuell erforschen. Genauso machen wir es mit unserem in der Planetenforschung etablierten 3D-Viewer PRo3D für Geologinnen und Geologen möglich, wie in Real auf dem Mars spazieren zu gehen und millimetergenau die Gesteinsschichten zu untersuchen.
Sie beschäftigen sich ebenfalls mit dem Thema Rekonstruktion. Was rekonstruiert das VRVis da konkret?
Hesina: Wir sind hier auf verschiedenste Anwendungsfelder spezialisiert, weil sehr viele Bereiche durch 3D-Rekonstruktionen stark profitieren. Dabei ist ein gemeinsamer Nenner unserer Projekte, dass wir visualisierungsbasierte Software-Lösungen entwickeln, durch die die Arbeit mit komplexen Punktwolkendaten massiv vereinfacht wird. Das funktioniert konkret so, dass mittels Laserscannern reale Objekte in ein digitales 3D-Modell, einen sogenannten digitalen Zwilling, übersetzt werden, anhand dessen Planungsprozesse und Simulationen ganz einfach möglich werden. Wir verwenden dazu im Übrigen auch Photogrammetrie, wo wir eigene Software entwickeln, um 3D-Modelle zu ermöglichen, die aus Fotografien entstehen.
Wo kommen Ihre Simulationen, abseits von Hochwasserszenarien, zum Einsatz?
Hesina: Die Simulation ist längst im Alltag angekommen. Man kann das unter dem Begriff Smart City zusammenfassen, wenn wir etwa Verkehrsflüsse in Städten simulieren. Dabei erfassen unterschiedliche Sensoren Daten, bauen ein mathematisches Modell und erschaffen ein Gesamtbild. Das kann etwa ein Evakuierungsszenario bei einem Fußballspiel im Stadion sein, um nur ein Beispiel zu nennen.
Wie weit ist hier die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz?
Hesina: Wenn man von KI spricht, sollte man hinterfragen, was unter der Motorhaube steckt. Es steckt weiterhin ein mathematisches Modell dahinter, das seine Daten aus unterschiedlichen Quellen bezieht. Ich kann Information nicht erfinden, das macht auch die Künstliche Intelligenz nicht. Es kann sein, dass z.B. bei ChatGPT scheinbar erfundene Informationen vorkommen, da es im Modell so antrainiert wurde. Das hat aber das Modell selbst nicht erfunden. Wir sprechen hier nicht von echter KI. Es wird immer eines Menschen bedürfen, der die Informationen kontrolliert.
Es besteht also kein Grund zur Sorge, dass Computer die Weltherrschaft an sich reißen?
Hesina: Nein, natürlich nicht. Es hängt immer davon ab, wie Systeme miteinander verknüpft und eingesetzt werden. Wenn man sich aber total von einem System abhängig macht, dann wird man davon irgendwann wahrscheinlich auch beherrscht.
Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit am VRVis?
Hesina: Das ist ein extrem wichtiges Thema für uns. Wir haben uns sehr intensiv mit den UNO Sustainable Development Goals beschäftigt, von denen es 17 Stück gibt. Wir sind stolz darauf, dass wir bereits zehn der 17 Entwicklungsziele in der Umsetzung abdecken. Darunter sind Themen, wie die Beschleunigung der radiologischen Diagnostik, Visual Analytics für die Energiewirtschaft, menschenzentrierte Analysewerkzeuge für erneuerbare Energie, vertrauenswürdige KI in der Biomedizin, wassersensible Stadtplanung für Sponge Cities und blau-grüne Infrastruktur, autonome, KI-basierte Baustellendokumentationen, 3D-Visualisierungswerkzeuge für Weltraumforschung und Geologie und vieles mehr. Wir produzieren dabei jetzt natürlich keine Photovoltaikanlagen oder Wärmepumpen, aber wir berechnen z.B. anhand von Simulationen, wie der Energiehaushalt eines Gebäudes aussieht, und helfen, Planungsbüros nachhaltig und kostenschonend zu bauen. Und wir erforschen smarte Klimawandelanpassungsstrategien, wo u.a. Visual Analytics eine große Rolle spielt. Dabei geht es um die Optimierung von Kraftwerken, die raschere Wartung von Turbinen oder den Einsatz von 3D-Druck im Bahnverkehr, um Ersatzteile nachhaltiger herzustellen.
Aus der Tätigkeit des VRVis ergaben sich bereits einige Spin-off-Unternehmen …
Hesina: Ja, wir sind sehr stolz darauf, dass aus einer Reihe unserer Forschungsprojekte Startups entstanden sind. Diese sind natürlich, ebenso wie Patente, sehr wichtig für die Verstetigung und Etablierung von Forschungsergebnissen in der praktischen Anwendung. Unser jüngstes Spin-off ist Visplore, ein am VRVis entwickeltes Visual-Analytics-Tool, das die Analyse großer, heterogener Sensordaten aus Industrie und Energiewirtschaft intuitiv und effizienter macht.
Weshalb gibt es in Österreich einen Mangel an IT-Fachkräften? Spüren Sie ihn beim VRVis?
Hesina: Bei uns gibt es erst neuerdings so etwas wie einen gewissen ‚Mangel‘, denn die Nachfrage nach unseren Lösungen ist stark gestiegen. Ich könnte morgen fünf neue Mitarbeiter mit gut dotierten Verträgen einstellen. Ich würde auch sagen, es fehlen hierzulande, im Gegensatz zu den USA, sowohl erfolgreiche Leuchtturmprojekte, als auch digitale Lichtgestalten. Deshalb gelten IT-Jobs bei uns oft als etwas unattraktiv. Dieser Ruf ist aber völlig unbegründet und ungerechtfertigt. Das Nerd-Image von früher wirkt hier vielleicht noch nach. Eine Imagekampagne würde der gesamten Branche guttun. Damit könnte man bereits in der Unterstufe der Gymnasien ansetzen.
Würden Sie sagen, dass das VRVis den Wirtschaftsstandort Wien aufwertet?
Hesina: Definitiv – einerseits, weil wir als Softwareunternehmen im Forschungsbereich eine relativ hohe Anzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beschäftigen. Zusätzlich sind wir als COMET-Zentrum auch verstärkt im KMUBereich tätig, wo wir durch eine wichtige Transferleistung von der Forschung in die Wirtschaft und Industrie leisten, die hilft, die digitale Transformation voranzutreiben und durch Innovationen den Standort attraktiver zu machen.
Was ist der nächste Trend bei der KI?
Hesina: Öffentlich am sichtbarsten geht es bei KI definitiv zunächst einmal weiterhin um die Verbindung der textbasierten KI mit Suchfunktionen und Ähnlichem. Wir konzentrieren uns vor allem darauf, KI und Machine Learning für die Bild- und Mustererkennung zu optimieren und durch maßgeschneiderte Visualisierungen vertrauenswürdiger und robuster zu machen – von der Fertigung bis zur Medizin sind unsere Lösungen hier schon heute unverzichtbare Assets, die in der Zukunft noch viel mehr Bedeutung bekommen werden.