Die Gefahr, bei Technologien den Anschluss zu verlieren

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Maximilian Scherr, Strategieberater und Partner bei Arthur D. Little, sieht die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Österreich nicht ganz so rosig.

Wissenschaftsskepsis, das Verschlafen von dramatischen Veränderungen in der Welt, eine nicht mehr zeitgemäße Energieversorgung – das sind nur einige Punkte, bei denen Maximilian Scherr, Partner bei Arthur D. Little, der ältesten Strategieberatungsagentur der Welt, Handlungsbedarf sieht. Der gebürtige Grazer leitet bei ADL branchenübergreifend die Praxisgruppe Strategie, Organisation & Innovation in Österreich und ist Co-Autor der globalen ADL CEO Insights. Eine blühende Zukunft des Wirtschaftsstandorts Österreich sieht er gefährdet, wenn nicht rasch fundamentale Veränderungen eingeleitet werden.

Glaubt man Experten, ist die wirtschaftliche Situation Österreichs nicht besorgniserregend. Stimmen Sie dem zu?
Maximilian Scherr: Nein, tue ich nicht. Allerdings muss man differenzieren. Erstens geht es uns in Österreich, gemessen an der Kaufkraft und vor allem der Kaufkraft der Top 80 Prozent, sehr, sehr gut. Bei der Kaufkraft der unteren zwanzig Prozent ist das vermutlich auch der Fall, da wir als Land, inklusive Sozialpartnerschaft, vieles richtig gemacht haben. Zweitens sind wir privilegiert: Unsere günstige geografische Lage, das angenehme Klima und die reichhaltige Kultur ermöglichen es uns, eine erfolgreiche Tourismusnation zu sein und Geld ins Land zu holen; wir haben das aber auch schlau genutzt. Dazu kommen auch viele Unternehmen, vor allem erfolgreicher Mittelständler, und in Summe haben wir einen Wohlstand erreicht, der es uns erlaubt, gute Universitäten und ein sehr gutes Lehrlingssystem zu haben. Wir verfügen damit über viele der Ingredienzien, die zum Erfolg verhelfen. Gleichzeitig sehe ich die Gefahr, dass Österreich bei Schlüsseltechnologien nach vorne hinaus den Anschluss verliert, sowohl in der Erforschung als auch in der Anwendung. Österreich ist eines der wissenschaftsskeptischsten Länder, und es gilt herauszufinden, weshalb das so ist. Es gibt gute Forscher und die bleiben auch im Land, aber darauf sollten wir nicht bauen. Ein Beispiel ist der Informatiker Sepp Hochreiter, eine in Deutschland geborene, aber an der Linzer Uni forschende KI-Koryphäe, die überzeugt ist, ein besseres Language Model zu haben als Open AI/ChatGPT, aber nicht entsprechend gefördert wird. Andere europäische Länder fördern viel stärker, und wir sollten auch den Mittleren Osten nicht unterschätzen. Ich war vor Kurzem erst unter anderem in Abu Dhabi, Bahrein, Dubai und Saudi-Arabien. In diesen Ländern werden ganz andere Summen in die Technologie gesteckt. Da hinken wir signifikant hinterher.
Folglich gibt es auch weniger Möglichkeiten, solche Materien zu studieren und daran zu wachsen. Wissenschaft und angewandte Technologie brauchen ein Öko-System um sich herum, wie im Silicon Valley. Dort war lange nichts, bis Investments, vor allem durch Pensionsfonds, in Venture Capital möglich waren. Dieses Venture Capital gibt es bei uns nicht in diesem Ausmaß. Das ist, neben der Technologie- und Forschungsskepsis, auch ein Pensionssystem-Thema.

Wo sehen Sie die größte Bedrohung der Zukunft des Standorts Österreich?
Scherr: Ich frage mich eher, wo der größte Hebel liegt. Die größte Bedrohung sehe ich darin, dass wir uns noch nicht hinreichend bewusst sind, wie drastisch sich die Welt verändert – eben weil es uns noch so gut geht. Wenn wir aber nicht hinreichend versuchen, am Ball zu bleiben und Dinge in Gang setzen, laufen wir Gefahr, diesen Anschluss zu verlieren.

Ist Österreich noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen? Und ist am Weg auch die österreichische Mentalität des eher Gemütlichen und des ‚Schau‘ ma mal‘ ein Hindernis?
Scherr: Ich möchte kein Österreicher-Bashing betreiben, aber es gibt zu viele, denen die Bewahrung des Status quo, ihrer Seilschaften, ihres bestehenden politischen Umfelds, etc. viel wichtiger ist, als zu verstehen, was sich etwa im Umfeld KI und neue Energiesysteme wirklich tut. Wenn ich mir einerseits ansehe, wie sehr viele Österreicher über die Energiepreise jammern und sie andererseits dagegen stimmen, wenn in der Gemeinde ein Windrad aufgestellt werden soll, wird das nicht funktionieren. Ich bin nicht für Enteignungen und Zwang. Aber ich wage die Prognose, dass, wenn wir das Thema Energiewende in Österreich ernst nehmen, wir an den Punkt kommen werden, an dem sich die Frage nach dem Wollen nicht mehr stellt. Sondern dann wird ein Windrad einfach dort aufgestellt, wo der richtige Standort ist. Dann wird das Verteilnetz der Energieversorger dort gebaut, wo es notwendig ist. Wir können nicht einerseits mehr Grün fordern, aber andererseits keinen Netzausbau oder Wind- und Photovoltaikprojekte wollen.

Brauchen wir wieder mehr Staat und mehr Reglementierungen?
Scherr: Es ist aus meiner Sicht nicht eine Frage des Mehr oder Weniger Staat, sondern wo braucht man den Staat oder das Land? Es ist eine Frage von ‚intelligentem Staat‘. These eins ist, dass es mehr Durchsetzungsvermögen bei großen Infrastrukturprojekten, die das Land braucht, geben muss. Dazu zählen das Übertragungsnetz für die Energiewende, mehr Windparks und Ähnliches. Es braucht auch weniger Regional- und Lokalkolorit. Ob das Wichtigste noch eine TU in Linz ist, obwohl man bereits eine sehr gute Uni in Linz hat, weiß ich nicht. Gerade ein kleines Land wie Österreich sollte vermutlich über eine überschaubare Anzahl exzellenter Zellen für gewisse Themen verfügen, anstatt Mittel möglichst noch zu verteilen. Es braucht ein Bekenntnis der öffentlichen Hand, dass die Energiewende die Eigentümer der Energienetze auch Geld kostet und sie dafür aufkommen müssen. Das sind oft die Länder bzw. mittelbar die Republik, wenn es um den Verbund und die APG (Austrian Power Grid) geht.
These zwei: Es muss eine andere Regulierung geben, damit die Energieversorger anders kapitalisieren und den notwendigen Netzausbau weiterverrechnen können. Die Österreicher können nicht erwarten, dass alles möglichst günstig ist und aus dem Nichts heraus unzählige Milliarden Euro in den kommenden Jahren in den Ausbau der Netze gesteckt werden. Die Rechnung ist relativ einfach: Wenn man sowohl in die Erzeugung als auch in die Übertragung mehr investiert, ergibt sich ein geringerer Strompreis. Investments brauchen aber eine Zeit lang, bis sie sich amortisieren.

Wie muss die Transformation des Energiesektors aussehen?
Scherr: Es braucht mehr dezentrale Produktion und damit mehr dezentrale Einspeisung mit einem viel dezentraleren Netzmanagement. Das funktioniert nur digital. Dazu gehören Lösungen, wie etwa, dass Autobatterien aus dem Pool an zunehmenden Elektrofahrzeugen nicht nur geladen werden, wenn es der Nutzer möchte und entladen wird, wenn er fährt. Dieser dezentrale Energiespeicher kann genutzt werden. Es braucht Lösungen zum Limitieren der Spitzen der Einspeisung bei Photovoltaikanlagen – weil sonst eine Trafostation überhitzen kann und der Strom dann komplett ausfällt –, aber auch diese Steuerung muss digital erfolgen. Deshalb ist für die Transformation der Energieversorger und Energienetze die Digitalisierung ein ganz wesentlicher Kern.

Muss Europa zu einer Insel – de-risked, wie man nun sagt – werden? Ist es überhaupt möglich, die Globalisierung umzukehren?
Scherr: Das muss man differenzieren. Eine bevölkerungsmäßig, unternehmensmäßig und flächenmäßig große Nation wie die USA kann sich es leichter leisten, von anderen autark sein zu wollen, da sie unter anderem sehr viele Technologien im Land hat. Eine Nation wie China kann sich das auch leichter leisten. Die Führung von Russland hatte den Gedanken, dass es sich das Land leisten könnte, was nicht funktioniert. Europa hätte gemeinsam sehr viel, wenn auch nicht alles, wie Energie, seltene Erden und einiges mehr. Aber Europa ist nach wie vor in viele Nationalstaaten zergliedert, und die Europaskepsis hat in einigen Ländern sogar zugenommen. So sehr ich mir auch wünschen würde, dass Europa diese gemeinsame Sprache und Kraft hätte, ist dies eher Wishful Thinking und ein auf absehbare Sicht nicht erfüllbarer Traum. Auch in Österreich vermisse ich den allgemeinen Konsens, den es noch vor dem EU-Beitritt gab, dass das Land Teil eines größeren Ganzen sein muss. Hier bin ich sogar pessimistisch, denn viele schreien nach mehr Autarkie, ohne zu wissen, was es kostet und welchen Verzicht es mit sich bringt, autark zu sein. Das beste abschreckende Beispiel hat uns Großbritannien vorgemacht: Die Mehrheit der Wähler ist dem Narrativ einiger Politiker aufgesessen, dass De-risking durch Trennung die Strategie der Wahl ist. Sie lernen jetzt, dass Trennung kein De-risking ist, sondern eher der Weg ins Desaster. Wenn das nicht einmal ein wirtschaftlich bedeutendes Land wie Großbritannien hinbekommt, wie sollten wir das schaffen?

Föderalismus kills?
Scherr: Er kann auch zu weit gehen. Ich glaube, dass der Österreicher mit seiner Mentalität ein bisschen Föderalismus braucht. Aber bei großen Herausforderungen wie bei der Energiewende, Investments in Zukunftstechnologien, der Sanierung des Pensions- und des Gesundheitssystems bräuchte es mehr nationalen Zusammenhalt.

Hat man in Österreich den Anschluss in Sachen KI bereits versäumt?
Scherr: Ich glaube, dass wir nach wie vor Top-Forscher in Österreich haben. Das soziale Umfeld zieht ja auch Menschen an, die gerne hierbleiben. Im Bereich Cyber Security gibt es einige Koryphäen in Graz rund um Prof. Stefan Mangard, bei den fundamentalen Fragen der KI ist Sepp Hochreiter wegweisend, bei KI in der Dermatologie ist Harald Kittler von der MedUni Wien führend … Es gibt also schon einige – und das sind nur drei Beispiele. Deshalb wäre es unfair, zu sagen, dass wir den Anschluss versäumt haben – aber wir fördern zu wenig fokussiert. Ich glaube zusätzlich, dass insbesondere in den Schulen, in der Volksschule und den Gymnasien erheblicher Aufholbedarf besteht. Wenn wir in manchen Klassen mehr Stunden Religion als IT haben, dann ist das nicht besonders zukunftsweisend. Außer man denkt vor allem über den Tod hinaus.

‚Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich viel Geld habe, sondern ich habe viel Geld, weil ich gute Löhne zahle‘, wird Robert Bosch zitiert. Gilt das noch immer, oder wo liegt der Fokus beim Recruitment der Zukunft?
Scherr: Ich würde das Zitat von Robert Bosch abändern. Ich würde sagen, dass ich Work und Life habe, weil ich auch anderen eine Work-Life-Balance ermögliche und es so schaffe, die guten Mitarbeiter zu halten. Am Ende des Tages sind wir erfolgreich, weil wir diese Dinge ermöglichen.

Der Paradigmenwechsel, dass nicht Geld allein zählt, hat also längst stattgefunden?
Scherr: Der ist bei vielen bereits Realität. Aber nicht jeder, der gerne mehr Work-Life-Balance hätte, leistet auch so viel, dass es gerechtfertigt ist, sie ihm einfach so zu geben. Die Geschichtsbücher sind im Bereich des Sports voll damit, dass Menschen, denen ein Talent in die Wiege gelegt wurde, es verschleudern, da sie zu viel Life haben möchten und es zu einer Inbalance kommt.

Welches sind die häufigsten Themen, bei denen Kunden bei Arthur D. Little um Rat fragen?
Scherr: Es gibt drei wesentliche Themen. Erstens: Was bedeutet KI für sie und ihr Unternehmen? Das ist keine Frage, auf die es eine einzige Antwort gibt. Bei vielen Dingen, die einen Paradigmenwechsel darstellen – und die Veröffentlichung dieser Language- Models stellt einen solchen Paradigmenwechsel dar –, erleben viele Menschen einen Goldrausch. Den werden nicht alle überleben, aber in diesem Goldrausch wird es Entwicklungen geben, die heute noch gar nicht vorhersehbar sind. Genau darauf müssen sich Unternehmen einstellen. Am Ende des Tages wird das auch die Tätigkeiten innerhalb jedes Jobs stark beeinflussen, oder Tätigkeiten werden wegfallen. Überall dort, wo Daten sowieso relativ konsistent abgelegt werden, wo Forschung stattfindet, die dokumentiert wird, im Journalismus und vielen anderen Bereichen wird es nicht mehr lange dauern, bis Modelle auf diese Daten selektiv Zugriff haben und Mitarbeiter das alles nutzen können. Vieles, das heute Herrschaftswissen ist, wird demokratischer verteilt werden. Daraus eben die richtigen Schlüsse zu ziehen und nicht nur statistische Wahrscheinlichkeiten zu nutzen, wird nach wie vor eine hohe Kunst sein. Das für Unternehmen ganz konkret auf den Punkt zu bringen, was das jetzt für sie bedeutet, ist eine Frage, die viele CEOs beschäftigt und die wir mit ihnen diskutieren.
Das zweite Thema ist nach wie vor: Wie schafft man Wachstum? Viele fragen sich momentan gerade, wie sie mit gestiegenen Kosten umgehen und diese reduzieren können. Das besprechen sie aber nicht immer mit uns, denn wir wissen vor allem darüber Bescheid, wie man in Wertschöpfungsketten mit Wachstum umgeht. Verantwortungsvolle Unternehmen haben sich in guten Zeiten um Kostenreduktion gekümmert, um in schlechten Zeiten ins Wachstum investieren zu können. Insbesondere, wer diese Hausaufgaben bereits gemacht hat, dem können wir dabei helfen, zu wachsen.
Das dritte Thema ist Cyber Security. Das ist nach wie vor ein Thema, das viele CEOs immer wieder mal ein bisschen beschäftigt, und es ist so präsent, dass sie ab und zu beunruhigt sind. Beunruhigt zu sein, ist aber nicht genug. Viele Unternehmen haben gute Leute in ihren Sicherheitsabteilungen, etwa ihren Chief Information Security Officer. Aber nicht jeder von denen hat die Macht und die Kraft, mit dem Board auf Augenhöhe diskutieren zu können. Wenn eine Zeit lang nichts passiert ist, nichts aktualisiert wurde und nicht viel Geld in die Aus- und Weiterbildung und in Technologie gesteckt wurde, dann herrscht auch eine Erwartungshaltung, dass sich das nicht dramatisch verändern muss. Viele CISOs wissen natürlich, dass sie nicht alleine deshalb sicher sind, weil das Unternehmen noch nicht erfolgreich gehackt wurde – sie haben aber oft nicht die Business-Transparenz, d.h. quantifizierte Risiken, um erfolgreich Board-Diskussionen führen zu können. Da helfen wir dabei, Mut und Fakten zusammenzutragen und bei den CEOs Gehör zu finden. Und in anderen Fällen helfen wir Boards, eine unabhängige zweite Meinung zu erhalten, wie es um ihre Security wirklich bestellt ist.